RADIKALISMUS UND UMF – Interview mit Kaan Orhon von Hayat Bonn

Interview mit Kaan Orhon, Asien- und Islamwissenschaftler, Mitarbeiter bei der Beratungsstelle Hayat Bonn

Wie gefährdet sind unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) durch Radikalisierung?

Orhon: Ganz allgemein gesprochen ist der Gefährdungsgrad hoch. Dabei muss man aber nach Herkunft, Alter, Fluchterfahrung, potenziellen Traumata und insbesondere der Integration in Strukturen hier in Deutschland unterscheiden. Das sind alles Faktoren, die eine Radikalisierungserfahrung begünstigen können.

Sind UMF eher bereit, sich auf Radikalisierungsversuche einzulassen?

Orhon: Junge Menschen sind generell leichter zu beeinflussen. Das gilt dann besonders, wenn die Verankerung in der Familie, in der Schule oder im Arbeitsleben fehlt. Radikalisierung bedeutet immer die Loslösung aus bisherigen Strukturen. Entwurzelten jungen Menschen fehlen die Bindungen, die sie davor schützen könnten. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge passen in die Gruppe derer, die von radikalen Akteuren angesprochen werden.

Wie erkennt man Unterscheide zwischen pubertärem Verhalten und Radikalisierungstendenzen?

Orhon: Junge Geflüchtete nehmen schnell wahr, dass die Gesellschaft in Deutschland auf bestimmte Begrifflichkeiten, Bilder und Symbole stark reagiert. Das wird dann gerne genutzt, um zum Beispiel gegen Unliebsamkeiten in Institutionen zu opponieren. Wir erleben es oft, dass die ersten Anzeichen von Provokationen, wie das Aufhängen von Symbolen, verbale Auffälligkeiten oder der Abbruch von Beziehungen sehr schnell passieren.

Man muss dann schauen, was genau dahinter steckt. Es kann sich noch um allgemeine Provokationen handeln, aber es kann auch mehr sein. Deshalb nehmen wir jede Anfrage sehr ernst.

Gibt es Warnhinweise auf Radikalisierungstendenzen bei Jugendlichen?

Orhon: Das ist sehr schwierig zu sagen. Wir von Hayat sind gegen Verallgemeinerungen oder Checklisten. Nicht jeder, der plötzlich anfängt, sich einen Bart wachsen zu lassen, wird Islamist. Bei Checklisten entstehen oftmals Beurteilungsautomatismen, gleichzeitig bergen sie die Gefahr der Missdeutung. Deshalb sehen wir Checklisten auch nicht als tragfähige Alternative zu einem persönlichen Gespräch.

Anzeichen für eine Radikalisierung können der Abbruch von Sozialbeziehungen sein, die sich nicht erklären lassen bzw. die mit religiösen Gründen erklärt werden, oder das Formulieren von Verschwörungstheorien. Wenn gute und etablierte Beziehungen plötzlich abgeschnitten werden, ist das ein ernstzunehmendes Warnzeichen.

Was können Mitarbeitende der Jugendhilfe tun, wenn sie den Eindruck einer Radikalisierung haben?

Orhon: Grundsätzlich gilt es im Umgang mit den Jugendlichen nicht überzureagieren. Solange keine akute Notlage vorliegt, sollte man mit dem Jugendlichen in Ruhe ein Gespräch führen und ihm nicht das Gefühl vermitteln, er sei ein Problem.

Mitarbeitende von Jugendhilfeeinrichtungen, aber auch alle anderen, sollten sich sehr frühzeitig an Einrichtungen wie Hayat wenden. Wir haben zwei Vorgehensweisen: Wir leisten indirekte Hilfe, indem wir mit den Bezugspersonen sprechen, um das Verhalten des Jugendlichen einzuschätzen. Oder wenn die Umstände es verlangen, führen wir ein Interventionsgespräch mit dem Jugendlichen.

Was leistet Hayat?

Orhon: Hayat steht für Deradikalisierung. Wir wollen Probleme mit Ideologien lösen. Die Beratung von Hayat Deutschland erfolgt systemisch, situativ, problem- und lösungsorientiert. Unser Angebot ist kostenlos und vertraulich und in den Sprachen Deutsch, Englisch, Türkisch und Arabisch verfügbar.

Hayat berät die Bezugspersonen, wie auch die betroffenen Jugendlichen. Hayat bietet keine Fortbildungen. Wir überprüfen aber auf Wunsch auch Einrichtungen wie Moscheen, wenn die Bezugsperson nicht weiß, wie sie die jeweilige Einrichtung einschätzen soll. Wir wissen, zu welcher Gemeinde, welchem Dachverband sie gehört, welche Sprache gesprochen wird, etc.

Weitere Anlaufstellen, die mit Hayat zusammenarbeiten:

• Stabsstelle Integration der Stadt Bonn. Die Stabsstelle Integration ist ämterübergreifend Ansprechpartner für das Thema Integration.
Telefon: 0228 – 77 53 77 (Hotline Flüchtlingshilfe)

• Wegweiser – Präventionsprogramm gegen gewaltbereiten Salafismus.
Sprechstunde: Mo-Do: 14:00h-16:00h,sowie nach Vereinbarung.
Telefon: 0228/77 61 50 und 0228/77 61 60
Mail: wegweiser(at)bonn.de; www.integration-in-Bonn.de